STEINZEIT
1. Szene: Beim Steineggwald
Der Ex-Jogger
In diesem Wald haben sie zum letzten Mal einen Wolf im Appenzellerland erlegt. Einen Wolf! Dieses wilde Tier, dieser stechende Blick, die heraushängende Zunge! Er hat die sieben Geisslein gefressen, der Wolf. Er hat Rotkäppchen und die Grossmutter gefressen. Und irgendwann, im Jahr 1695, wurde er hier in diesem Wald getötet. Zunächst haben sie ihm eine Falle gebaut, in die er auch tatsächlich fiel, und dann haben sie ihn erschlagen, mit Knüppeln und Steinen. Und später, sehr viel später, haben sie ihm ein Denkmal gebaut, dem toten Wolf, hier im Wald, haben die Jahreszahl seines Todes in einen Felsen gehauen und den Ort Wolfsgrube genannt. Jetzt hat der Wolf seinen Grabstein hier im Wald.
Auch ein Teil von mir liegt wohl hier vergraben, im Dickicht unter den Tannennadeln und den Ameisen. Zwar hat mich niemand erschlagen oder erschossen. Doch ich wurde erwischt. Die Zeit, sie ist eine unerbittliche Jägerin. Wir können ihr wohl kurz ausweichen, doch wir können ihr nicht entfliehen. Ich habe den Schuss nicht gehört, weil es keinen gab. Aber das Rauschen und Pfeifen im Ohr dauert nun schon einige Jahre lang an. Und die Zeit, sie bleibt mir auf den Fersen.
In diesem Wald gibt es einen Vitaparcours, einen dieser Trimm-dich-Pfade mit seinen 15 Posten. Man muss über Baumstämme hüpfen, sich an Reckstangen hängen, Liegestütze machen. So bleibt man beweglich, so bleibt man fit, so bleibt man gesund. Ich bin den Vitaparcours früher mindestens einmal pro Woche gelaufen, manchmal sogar gleich zwei Mal hintereinander. Das war meine Flucht in die Freiheit, das waren meine kleinen Inseln, die weit weg vom starren Alltag auf dem weiten Meer trieben und mich stets spüren liessen, dass auch ich ein Teil der Natur war. Und jetzt? Jetzt bin ich nicht mehr beweglich genug, um den Vitaparcours zu bewältigen. Ich bin nicht mehr fit genug, nicht mehr gesund genug. Die Hüfte ist schuld, rede ich mir ein, doch wenn es nicht die Hüfte wäre, dann wäre es ein anderer Teil meines Körpers. Ich bin nicht krank, aber ich bin alt. Und manchmal denke ich, dass das Eine und das Andere sich viel zu sehr gleichen, um überhaupt einen Unterschied zu machen.
Hin und wieder gehe ich spazieren im Wald, und dann begegne ich ihnen, diesen jungen und sportlichen Menschen, die den Vitaparcours absolvieren oder einfach durch den Wald rennen. Sie tragen teure Laufschuhe und enge Hosen und T-Shirts in grellen Farben. Manchmal nicken sie mir zu, manchmal schauen sie grimmig, manchmal murmeln sie etwas Unverständliches, manchmal lächeln sie; doch jedes Mal würde ich ihnen nur zu gern die Faust ins Gesicht schlagen oder ihnen von hinten in die Beine treten, damit sie hinfallen. Ich kann sie nicht ausstehen, diese merkwürdigen Gestalten, die den blanken Hohn in ihren Gesichtern tragen und mir mit jeder ihrer geschmeidigen Bewegungen klar machen, dass ich erwischt wurde, von der Zeit, dieser ruchlosen Jägerin.
Natürlich weiss ich, dass sie keine Schuld tragen, diese dynamischen und beweglichen Sportskanonen. Sie sind nichts anderes als das, was ich früher war. Trotzdem nehme ich es ihnen übel. Ich beneide sie um ihre Kraft, um ihre Stärke, um diese ausgeprägte Körperlichkeit, die zugleich aufgesetzt und zutiefst natürlich wirkt. Vor allem aber beneide ich sie um die Zeit. Um jene Zeit, die sie noch zur Verfügung haben. Eine Zeit, die mir entglitten ist und immer mehr entgleitet.
Ich komme mir vor wie ein Dinosaurier, der bereits ahnt, dass er einer aussterbenden Art angehört. Ich bin ein Museumsstück, und die jungen Leute, sie kommen und betrachten mich und staunen, sind fasziniert, was die Zeit mit uns Menschen macht, und sie verdrängen die Tatsache, dass auch sie nicht entfliehen können. Mir scheint, als würde ich langsam, aber stetig zu einer Erinnerung werden, zu einem Eintrag im Geschichtsbuch, wie der Walkman oder die Schallplatte, wie das Briefeschreiben oder das Radio. Ich weiss noch, wie ich früher in meinem Zimmer sass und Radio hörte. Elvis Presley. Otis Redding. Dann natürlich Abba, aber Abba mochte ich nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, welche Möbel damals in meinem Zimmer standen, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie mein Radiogerät aussah. Es war gross und klobig und braun. Ein ganz ähnliches Gerät steht nicht weit von hier, im Fenster eines Hauses. Zumindest stand es früher stets dort. Ich würde gerne nachsehen, ob es noch da ist.
2. Szene: Beim Radiomuseum
Der Radiosammler
Wenn mich die Leute fragen, was ich denn so anfange mit der Zeit, die in meinen Tagen rumliegt, dann gebe ich immer die gleiche Antwort. Ich sammle Radios. Manche nicken dann unsicher, andere zucken mit den Schultern. Einige lächeln verträumt, das sind wohl jene, die mich verstehen. Ich sammle Radios. Es geht mir nicht um das Sammeln an sich, ich könnte keine alten Spielzeugautos sammeln, oder gar Briefmarken oder dergleichen. Es geht mir um die Radiogeräte, um das Radio an sich. Dennoch verstehe ich sie, die Leute, die Spielzeugautos sammeln, oder Briefmarken.
Ich denke, alles ist edel, wenn es dem Herzen entspringt. Wenn jemand von Herzen gerne kocht, ist das wunderbar, selbst dann, wenn das Gekochte nach faulem Gemüse schmeckt und sich kaum hinunterschlucken lässt. Es wohnt etwas ungemein Tröstliches in den Herzensangelegenheiten und Leidenschaften der Leute, etwas zutiefst Menschliches. Ich glaube, für das Menschsein braucht es nicht zuletzt auch Dinge, denen man sein Herz schenkt. Und für mich ist das Radio dieses Ding. Auch wenn es mehr ist als ein Ding, sehr viel mehr.
Das Radio hat die Menschen geprägt. Freilich prägt auch das Fernsehen die Menschen, oder das Internet, doch sie gebärden sich dabei unglaublich laut und lärmig, sie schlagen wild um sich und nehmen auf niemanden Rücksicht. Das Radio hingegen, es war stets ungleich eleganter. Wer schon einmal das 2. Klavierkonzert in B-Dur von Brahms über das Radio gehört hat, der weiss, dass in den Tönen bisweilen eine ganz eigene Lebenskraft steckt, eine beinahe atemberaubende akustische Qualität. Natürlich darf es nicht irgendein beliebiges Radiogerät sein. Die wahre Eleganz, sie zeigt sich erst, wenn nicht nur der Musik und den Worten eine gewisse Echtheit innewohnt, sondern auch dem Gerät, welchem die Musik und die Worte entweichen.
Radio hören kann man auch mit dem billigen Mist, den man heute für ein wenig Klimpergeld im Internet bestellen kann. Dann kommt ein Paket aus China, man packt es aus, setzt Batterien ein oder hängt es ans Stromnetz, und schon dringt eine Stimme aus den Lautsprechern, die davon erzählt, dass man in Heiden einen Wolf gesehen habe oder dass in einer kleinen Druckwerkstatt in der Region alte Steindrucke ausgestellt werden. Das Paket aus China, es sorgt dafür, dass man mehr über die eigene Heimat erfährt. Das ist beeindruckend, zweifellos. Doch nach einigen Wochen oder Monaten ist nichts mehr übrig von diesem Beeindruckenden, da ist oftmals nur noch ein Haufen Plastik, der entweder nicht mehr funktioniert oder nicht mehr benutzt wird. Solche Radiogeräte sind mir egal. Andere hingegen, echte Radios mit Charakter, sie berühren mich. Das sind die Radios, denen meine Leidenschaft gehört. Das sind die Radios, die ich sammle.
Die Radios, sie berühren nicht nur mich. Sie lösen auch in anderen Menschen etwas aus, was wiederum in mir etwas auslöst. Es gibt tausend Geschichten über solche Menschen, doch eine ist mir besonders nah. Eines Tages – es war tiefer Winter, der Schnee lag in dicken Schichten über der Steinegg – fuhr ein Auto vor meinem Haus vor, eine grosse und elegante Limousine mit italienischem Kennzeichen. Der Motor wurde ausgeschaltet, dann öffnete sich die Beifahrertür. Das erste, was ich sah, waren die Schuhe. Blutrote Stiefel mit hohen Absätzen. Sie wirkten völlig fremd im weissen Schnee, beinahe lächerlich, doch gleichzeitig strahlten sie auch eine merkwürdige Zuversicht aus, einen übermütigen Stolz. Die Frau, die ausstieg, schien sich am Schnee nicht zu stören und auch nicht daran, dass ihre hohen roten Schuhe nass wurden. Sie kam auf mich zu und begann, in erstaunlich gutem Deutsch zu reden. Sie stamme aus Mailand, sagte sie, und bei einem früheren Besuch in Speicher habe sie meine Röhrenradio-Sammlung gesehen. Sie sei von dieser Leidenschaft so begeistert gewesen, dass sie sich geschworen hatte, beim nächsten Besuch ihr eigenes Radiogerät vorbeizubringen. Sie nickte ihrem schweigsamen Begleiter – es war wohl ihr Ehemann – kurz zu, woraufhin dieser zum Kofferraum des Wagens ging und mit einem Radiogerät zurückkam. Es war ein wunderschönes Radio, ein Marconi, beinahe makellos. Ich war sprachlos. Nicht nur wegen dem Radio. Sondern wegen der Reise, welche die Frau unternommen hatte, um mir das Radio zu bringen. Und wegen dem Bild, das sie in die winterliche Landschaft der Steinegg malte. Alles an diesem Bild schien aus der Zeit gefallen zu sein, schien sich gelöst zu haben von den Gesetzen der Monate und Jahre. Die Frau, das Radio, die Limousine, die roten Schuhe, sogar der Schnee und der Wald und die Häuser, alles fügte sich zu einem Gemälde zusammen, in welchem die Zeit konserviert blieb.
Es ist kein Zufall, dass dieses Gemälde die Steinegg zeigte, davon bin ich überzeugt. Der Steinegg wohnt diese gewisse Kraft inne, die anderen Gebieten fehlt. In diesem Wald steht ein Stein, in den man den Moment eingehauen hat, in welchem der letzte Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. In meinem bescheidenen Heim bleibt die Geschichte des Radios ein Stück weit lebendig. Und nur einige Schritte von hier steht eine Druckwerkstatt, in welcher Drucktechniken gepflegt werden, die andernorts nicht mehr überleben konnten.
3. Szene: In der Druckwerkstatt
Der Steindrucker
Es gibt ein Lied von der Band Tocotronic. Es heisst Digital ist besser. Ich sage nicht, dass Tocotronic lügen. Aber ich zweifle die Aussage an, vehement und aus tiefstem Herzen. Digital ist nicht besser. Wenn Digital der Fortschritt sein soll, die Zukunft, das Moderne, nein, dann ist Digital nicht besser. Digital ist höchstens der Versuch, es besser zu machen. Ein Versuch, der allzu oft misslingt.
Mir scheint, als fehle der modernen Zeit das Bedürfnis oder die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, das dem Fahrtwind der Zeit standhält. Dass technische Gerätschaften heutzutage häufig nur so lange funktionieren, wie die Garantielaufzeit dauert, ist nur eines der Symptome dieser Denkhaltung. Wer ein Mobiltelefon besitzt, das älter als zwei Jahre ist, wird im besten Fall schief angesehen. Beständigkeit ist offenbar ein Wert, dem mittlerweile keine Beständigkeit mehr innewohnt.
Das war nicht immer so. Hier oben im Steineggwald haben sie eine Jahreszahl in den Stein graviert: 1695. Das Jahr, in welchem der letzte Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. Eingehauen wurde die Inschrift im Jahr 1882, anlässlich der Waldvermessung. Und heute steht die Zahl noch immer da. Wäre es eine digitale Zahl, man hätte sie längst gelöscht, hätte nicht einmal mehr eine Sicherungskopie angefertigt. Doch die Zahl ist nicht digital. Sie ist real, sie ist greifbar, seit Jahrhunderten. Sie ist – tatsächlich – in Stein gemeisselt.
Auch im Steindruck, der sogenannten Lithografie, wird mit Stein gearbeitet, um die Zeit festzuhalten. Man zeichnet direkt auf den Stein und macht ihn zum Druckträger. Mit diesem Stein lässt sich dann in der Handpresse oder in der Steindruck-Schnellpresse eine Lithografie anfertigen. Es braucht Zeit, dieses Verfahren, es braucht Geduld, und es braucht Herz, Leidenschaft, ja, es braucht Liebe.
Es gibt immer weniger Menschen, die der Lithografie oder den anderen traditionellen Drucktechniken ihr Herz, ihre Leidenschaft, ihre Liebe schenken. Umso schöner ist es, diesen wenigen Menschen zu begegnen. Einmal war hier in der Druckwerkstatt eine Künstlerin zu Besuch, eine ziemlich junge Frau. Ihre Augen waren irgendwie unterschiedlich, ihre Haare widersetzten sich der Schwerkraft, aber sie war mir sehr sympathisch. In ihren merkwürdigen Augen blitzte jene Leidenschaft auf, die im tiefsten Innern wurzelt. Sie ging zunächst mit strahlender Begeisterung in der Druckwerkstatt umher, betrachtete die Druckpressen und die Artefakte, strich mit ihren schlanken Fingern über die Gerätschaften. Irgendwann begann sie schliesslich zu arbeiten und fertigte einen Steindruck an. Auf diesem Steindruck war ein Läufer abgebildet, der mit gebücktem Rücken durch den Wald lief. Ich weiss nicht genau, woran es lag, dass genau dieses Bild mich erschaudern liess, im besten Sinn. Vielleicht war es die Klarheit der Linien, mit welcher die Künstlerin diese Szene beschrieb. Vielleicht war es die gebückte Haltung des Läufers, die von der Bürde der Jahre und Jahrzehnte zu erzählen schien. Vielleicht war es auch die Künstlerin selbst, diese junge Frau mit der Leidenschaft in den Augen. Was es auch immer war, es machte mich sprachlos. Und offensichtlich erkannte die junge Künstlerin meine Begeisterung. Denn sie schenkte mir das Bild. Sie kenne das Leuchten in meinen Augen, meinte sie und lächelte.
Nur zu gerne würde ich es zeigen, würde es in Szene setzen, als greifbares Beispiel der atemberaubenden Kraft, die in den alten Drucktechniken liegt. Doch das Bild, es ist nicht mehr in meinem Besitz. Eines Tages kam eine Frau aus Italien zu Besuch, eine äusserst elegante Dame mit roten Stiefeln mit beeindruckend hohen Absätzen. Sie sah sich interessiert in der Werkstatt um, nickte immer wieder, als wüsste sie um den Wert der konservierten Zeit. Schliesslich erblickte sie das Bild des Läufers und verharrte, liess den Unterkiefer ein wenig nach unten klappen. Ich weiss nicht, wie lange sie in der Werkstatt stand und auf das Bild starrte. Irgendwann zuckte sie zusammen, dann kam sie auf mich zu und sagte, dass sie mir das Bild und die Steinplatte abkaufen möchte, koste es, was es wolle. Ich habe ihr erklärt, dass ich mit Probedrucken und Steinplatten keinen Handel treibe. Im ersten Moment zeigte sich in ihrem Gesicht eine deutlich sichtbare Enttäuschung, doch dann nickte sie und meinte, dass sie mich verstehe. Sie lächelte und blickte sich noch einmal in der Werkstatt um. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Es war eindeutig, dass sie die Luft in diesem Raum in sich aufnahm, ganz bewusst, gerade so, als wollte sie die Zeit, die in dieser Werkstatt eine Heimat gefunden hatte, einatmen. Daraufhin habe ich ihr das Bild geschenkt. Und es bis heute nicht bereut.
In einigen Jahrzehnten wird es auch hier in der Steinegg wohl keine Druckwerkstatt mehr geben, da werden keine Radios mehr in den Fenstern stehen. Aber dort oben im Steineggwald, da wird noch die Zahl 1695 in Stein gemeisselt sein, das Jahr, in dem zum letzten Mal ein Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. Und irgendwo, vielleicht in Italien oder an einem anderen Ort, wird jemand auf eine Lithografie blicken, auf der ein gebückter Läufer abgebildet ist. Und vielleicht, hoffentlich, wird dieser Jemand dabei einen Moment lang verharren, wird staunen, wird begeistert sein. Und wird etwas verspüren, irgendwo im Innern.